Ist die Wissenschaftslehre eine Anthropologie?



...wenn man von etwas an sich reden könnte, so wäre es der reine Wille.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 151 


Was man für ein Mensch ist.

Apoll und Marsyas


Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein todter Hausrath, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur schlaffer oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben.
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Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, SW I, S. 434 



Nota. - Bei Lichte besehen, ist die Wissenschaftslehre also nicht nur hintenrum eine Anthropologie. Tatsächlich muss die Frage, 'wie der Mensch sei', nämlich sein soll, zuvor in dieser einen Weise bereits beantwortet worden sein, damit die Wissenschaftslehre überhaupt anfangen kann. Apriori und aposteriori bedeuten hier dasselbe.
JE



Die Wissenschaftslehre ist eine Anthropologie.
aus fotocommunity

Die Wissenschaftslehre ist keine reelle, 'konstitutive' Theorie von Ursprung, Entwicklung und (ergo) Wesen des Bewusstseins. Sie ist ein transzendentales, 'regulatives' Schema, das das tatsächlich unter den Menschen vorkommende Bewusstsein (eigtl. Wissen) lediglich verständlich macht. -

Verstehen ist aber nicht theoretische Beschauung. Verstehen geschieht hinsichtlich einer Absicht. Die Wissenschaftslehre ist daher nicht eine Geschichte des Geistes, sondern seine pragmatische Geschichte;* eine, aus der man etwas lernen kann. Was lernen? Doch wohl, 'wie man ihn richtig betätigen soll'. 

Richtig in Hinblick worauf? Wiederum in Hinblick auf eine Absicht; worauf abgesehen wird, heißt ein Zweck. Das Wissen - Geist, Vernunft, Bewusstsein... - dient nicht diesem oder jenem Zweck, sondern dem obersten, letzten, dem Zweck der Zwecke.

Gibt es denn so etwas?

"Die Zweckmäßigkeit der Natur ist ... ein Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat, deren Prinzip er ist. Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf / Zwecke, nicht beilegen; sondern diesen Begriff nur brauchen, um über die Verbindung der Erscheinungen in ihr nach empirischen Gesetzen, zu reflektieren."**

Einen Naturzweck hat der pp. Geist also nicht. Hat er aber einen immanenten, in seinem Wesen, bevor es in Erscheinung trat, angelegten Zweck, an dem er gar nicht vorbeikann?


Fichte mindestens nimmt einen solchen an: Vom "Vernunftzweck" ist allenthalben die Rede. Wirklich erscheinen Vernunft und Vernünftigkeit überall als das - naturgemäß in sich weiter nicht bestimmbare - Absolutum der Wissenschaftslehre.

Absolutum, aber nicht Obiectivum: daran hält Fichte bis ans Ende fest.°  Richtigerweise, denn was wäre der harte Kern der Vernünftigkeit? Das Sittengesetz, was denn sonst. "Daß das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zutun in uns sei, sondern daß es erst durch uns selbst gemacht wird", heißt es aber in der Sittenlehre.*** Kein Reale, sondern ein Problem. Man kann es zu einem Postulat wenden. Dann heißt es Idee und ist immer nur, wenn ich ihr gemäß handle. Sie kann überhaupt nur als ein Suchen angeschaut werden.****

Wird der ganze Kreis der Wissenschaftslehre durchlaufen, findet sich: Die pragmatische Geschichte ist nicht weniger als das vollständige Programm einer Anthropologie.


*) Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 222
   
**) Versuch eines erklärenden Auszugs [aus der 'Kritik der Urteilskraft'] GA II/1, S. 333f.;
***)System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, SW Bd. IV, S. 192

****) m. a. W.: auf keinen Fall als ein Überfließen!
°) Nein, das hat er nicht getan, ich habe es später mit der gebotenen Gründlichkeit dargestellt. Im Gegenteil hat sein Schwanken in dieser Sache den Boden bereitet für seine dogmatische Wendung nach dem AtheismusstreitNachtrag Mai 2014


 


Die Wissenschaftslehre ist nur hintenrum eine Anthropologie.
althaus kommunaltechnik

Die Wissenschaftslehre ist, metaphilosophisch gesprochen, eine aktualistische Fundamentalontologie. Wo sie von Sein spricht, ist immer nur ein (unbedingtes) Gelten gemeint. Es gilt etwas nur in einem, durch einen und für einen Akt. Geltung ist das, was einen Akt a posteriori rechtfertigen oder a priori begründen kann. Mit andern Worten, in der Wissenschaftslehre ist überhaupt nur von tätigen Subjekten die Rede - sofern sie Subjekte, nämlich tätig sind. Die lediglich leidenden Objekte sind Gegenstand der empirischen ("historischen") Realwissenschaften.

In ihrer Durchführung ist die Wissenschaftslehre Kritik; Kritik der Vernunft überhaupt: die Rückführung aller Geltungen auf Setzungen. Die setzende Vernunft (nur eine solche 'gibt es') ist das einzige 'Vermögen' der Menschen als solcher, nämlich sofern sie Ich sagen können-wollen-dürfen. Es ist das, was ihnen als Menschen gemeinsam ist, und nicht das, was sie als lebende Personen voreinander auszeichnet. Letzteres ist all solches, worüber die Vernunft nicht zu verfügen hat. So alle ästhetischen Urteile.

Nach dieser Kritik sind alle als vorgegeben begegnende Geltungen in historische Setzungen aufgelöst und bleibt übrig das Subjekt nackt und bloß: Was immer als gültig überkommen war, ist nach dem Wie und Woher, ist nach den historischen Umständen seiner Setzung zu überprüfen und zu bejahen oder zu verwerfen. Da immer Neues hinzudrängt, ist es mit dem Überprüfen niemals getan, es hat zu geschehen "in Permanenz". (Doch Manches ist schon nur allzu bekannt.)

Und so herum wird die Wissenschaftslehre dann doch zu einer Anthropologie - und zu einem Hinweis für die rechte Lebensführung. Die aber bleibt ein ewig aktual zu lösendes Problem: die Vereinbarung von unserer mit meiner Welt.*


*) Ich kann mich inzwischen genauer ausdrücken: die ewig akutal zu lösende Frage, bis wohin Vernunft zu reichen hat und wo sie nicht mehr hingehört.







Fichtes anthropologisches Apriori/Aposteriori.

Um Etwas zu wollen, bedarf es der Einbildungskraft alias eines poietischen Vermögens.

Um etwas zu wollen, müsste offenbar noch etwas hinzukommen.

Fichte hat die Reihenfolge umgekehrt. Er nimmt das Wollen als sein Apriori. Es ist die Bestimmung des Menschen: "So soll er werden!"  -   Hinzukommen muss vielmehr noch ein Etwas.

Wer bestimmt, wie er werden soll? Es ist längst bestimmt: Dieses Apriori ist - es würde ihn nicht überrascht haben - ein Aposteriori. Es ist das autonome Subjekt, die selbstbestimmte Person der bürgerlichen Gesellschaft.
3. 6. 15

 

 

 

Das Postulat unbedingter Agilität.



Verändert sich etwa der Zustand unserer Beschränktheit und die ihm korrespondierende Welt von selbst? Dies ist nicht zu erwarten, denn es gehört zum Charakter der Welt, dass sie nur ist, nicht wird, sie fängt keine Hand-lung an. Die Sache müsste etwa so sein, dass schon in unserer Natur in unserer Bestimmtheit ein Prinzip der Veränderung läge, so wie dies bei den Pflanzen und Tieren der Fall ist. Tiefer unten wird sich so etwas finden. -

Es verhalte sich wie es wolle, so darf ich diesem Postulate der Veränderung hier nur hypothetische Gültigkeit zuschreiben. Sollte sich aber zeigen, dass nur allein durch eine solche Annahme und ohne sie nicht das Be-wusstsein erklärt werden könnte, dann hätte ich das Recht, sie kategorisch zu postulieren.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 88


Nota Es ist das Postulat einer unbedingten Agilität - Wollen, Trieb, Streben -, das die Wissenschaftslehre zu einerAnthroplogie macht; wobei es fast gleichgültig ist, ob erst hintenrum oder schon vornerum.
JE






Ich kann aber meine Natur durch freies Handeln ausdehnen.

Glaubenszentrum Bad Gandersheim

Über die Veränderung im Gefühle. Die erste Beschränkung A [...] ist eine ursprüngliche Beschränkung meiner Natur. Aus ihr allein folgt gar nichts, denn es folgt nicht einmal die Anschauung des Ich. Ich kann aber meine Natur durch freies Handeln ausdehnen, und dann möchte etwas folgen. Aber ich kann nicht frei handeln, ehe ich für mich Ich bin; wenigstens die Möglichkeit da ist, Ich sein zu können. Zu dieser Möglichkeit gehört, dass in meiner Natur eine Veränderung vorgehe, dass auf mich gewirkt, dass meine Natur affiziert werde. Die Anlage kann im Ich liegen, man braucht nicht aus ihm herauszugehen. Im gemeinen Bewusstseins muss sichs erklären durch das Vorhandensein von etwas außer mir.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 96


Nota. - Der reale Ausgangspunkt der Ichwerdung - nicht ihrer idealen Darstellung in der Wissenschaftslehre - ist für Fichte die Naturgegebenheit der Beschränktheit der Individuen: ein Faktisches. Trieb und, tiefer, Wollensind hernach die Erklärungsgründe  –  und nur als solche 'das Erste'.
JE 






Die ideale Tätigkeit.



Die Natur des Ich ist ein Trieb, wir können also die ideale Tätigkeit erklären aus einem Triebe zur Reflexion, auch Trieb nach einem Objekte, oder Sachtrieb, welcher vorausgesetzt werden muss, um die ideale Tätigkeit zu erklären. Ein solcher Trieb kann nicht gefühlt werden; denn ein Trieb kann nur gefühlt werden, inwiefern er nicht befriedigt wird; aber der Reflexionstrieb wird allenthalben befriedigt. Man muss ihn sorgfältig unterscheiden von dem Triebe nach reeller Tätigkeit, welcher oft nicht befriedigt wird.

Es wird also angeschaut, weil angeschaut wird.

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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982,
S. 79
[Rechtschreibung angepasst]



Nota.

Das Ich der Wissenschaftslehre ist Intelligenz, nicht Stoffwechsel plus Fortpflanzung. Trieb heißt bei Fichte so ziemlich das Gegenteil von dem, was seit Siegmund Freud - eigentlich seit Schopenhauer - so genannt wird. Denn nicht "das Leben selbst" hat die Wissenschaftslehre zu erklären; dessen bedarf es ja gar nicht. Die Intelligenz hat sie zu erklären, wie sie sich aus Freiheit Regeln gibt, und wie all unsere Zweifel, Gewissensnot und Abenteuer des Denkens erst daraus hervorgehen. Mit andern Worten, ein Menschenbild hat sie sich allbereits vorausgesetzt, bevor sie mit ihren Untersuchungen überhaupt anfing.
JE

 

 

Das Sein des Ich ist Trieb.

alibaba.com

Der Charakter des Seins ist Bestimmtheit, folglich müsste hier liegen eine ursprüngliche Bestimmtheit zum Handeln überhaupt. -

Das Ich, sobald es gesetzt ist, ist nicht frei zu handeln überhaupt, sondern nur, ob es dies oder jenes handeln will; wir bekommen hier ein notwendiges Handeln. Das Wesen des Ich ist Tätigkeit, folglich wäre hier das Sein der Tätigkeit. Das den Begriff von seinem Willen entwerfende Ich ist gebunden, aber die Gebundenheit deutet auf ein Sein, und zwar auf ein eigentliches Sein. Das Bindende und insofern  Setzende ist dem Ich angehörig, aber das Ich ist hier praktisch (Tätigkeit), sonach ist hier ein Sein der Tätigkeit. Beide sich widersprechende Begriffe sind hier vereinigt (nämlich Sein und Tätigkeit), und diese Vereinigung wird hier betrachtet als ein Gefundenes.

Ich finde etwas, aus dem ich mein Handeln zusammensetze; in diesem liege ich selbst, also hier wird Tätigkeit gefunden. Diese Tätigkeit ist eine zurückhaltende Tätigkeit, und davon bekommt sie den Charakter des Seins; so etwas ist aber ein Trieb, ein sich selbst produzierendes Streben, das im innern dessen, dem es zugehört, gegründet ist ..., es ist Tätigkeit, die kein Handeln ist, etwas anhaltendes, die ideale Tätigkeit bestimmendes, eine immer fortdauernde Tendenz, den Widerstand zu entfernen (wie die Tendenz einer gedrückten Stahlfeder).
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Wissenschaftslehre nova methodo, Nachschrift K. Chr. Fr. Krause, Hamburg 1982, S. 66

[Rechtschreibung angepasst]



Nota. - Das Ich ist frei, so oder anders zu handeln. Aber ob es überhaupt handeln will, steht ihm nicht frei. Es ist Handeln, nämlich Tätigkeit gegen einen Widerstand, aber im Zustand der δυναμις, eine Möglichkeit, der es nicht freisteht, sich zu aktualisieren, sondern es immer muss, sobald sie es kann. Das ist die Vorstellung, von der die Wissenschaftslehre, wenn auch nicht der Begriff, von dem ihre Darstellung ausging. 

Das ist, ich werde nicht müde, es zu wiederholen, eine anthropologische Prämisse. Nicht nur begründet die Wissenschaftslehre eine (die rationelle) Anthropologie, sondern sie gründet auch darin. Sie ist zirkulär, ja.
JE

 

Fichtes kategorischer Imperativ.



Die Schwierigkeit war eigentlich, ein Wollen zu erklären ohne Erkenntnis des Objekts. Der Grund der Schwierigkeit lag darin, dass das Wollen nur betrachtet wurde als ein empirisches, als ein Übergehen vom Bestimmbaren zum Bestimmten. 

Diese Behauptung ist nur geleugnet worden; es ist ein Wollen postuliert worden, das die Erkenntnis des Objekts nicht voraussetzt, sondern schon bei sich führet, das sich nicht auf Beratschlagung gründet, und dadurch ist nun die Schwierigkeit völlig gehoben.

Das reine Wollen ist der kategorische Imperativ; es wird aber hier nicht so gebraucht, sondern nur zur Erklärung des Bewusstseins überhaupt. Kant braucht den kategorischen Imperativ nur zur Erklärung des Bewusstseins der Pflicht.
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Wissenschaftslehre nova methodo, Hamburg 1982, S. 143 

 





Das System - in der Darstellung und in der Vorstellung.Tinguely, Heureka

Wie ein Objektives jemals zu einem Subjektiven, ein Sein für sich zu einem Vorgestellten werden möge - dass ich an diesem bekannteren Ende die Aufgabe aller Philosophie fasse - wie es, sage ich, mit dieser sonderbaren Verwandlung zugeht, wird nie jemand erklären, welcher nicht einen Punkt findet, in welchem das Objektive und das Subjektive überhaupt nicht geschieden, sondern ganz Eins sind. Einen solchen Punkt nun stellt unser System auf und geht von demselben aus. Die Ichheit, die Intelligenz, die Vernunft - oder wie man es nennen wolle - ist dieser Punkt.

Diese absolute Identität des Subjekts und Objekts im Ich lässt sich nur schließen, nicht etwa unmittelbar als Tatsache des wirklichen Bewusstsseins nachweisen. Wie ein wirkliches Bewusstsein entsteht, sei es auch nur das Bewusstsein unserer selbst, erfolgt die Trennung. Nur inwiefern ich mich, das Bewusstseinende von mir, dem Gegenstande dieses Bewusstseins, unterscheide, bin ich mir meiner bewusst. 

Auf den mancherlein Ansichten dieses Trennung des Subjektiven und des Objektiven, und hinwiederum der Vereinigung beider, beruht der ganze Mechanismus des Bewusstseins.
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System der Sittenlehre..., SW IV, S. 1



Nota. - Um ein System der Sittenlehre "nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" darstellen zu können, hat Fichte wohl zuerst die... Prinzipien der Wissenschaftslehre umreißen müssen. Es sprach zu Studenten, die etwas über Moralphilosophie hören wollten, und also eine allgemeine Vorstellung von den Grundfragen der Philosophie wohl mitbrachten. Er setzt an dem "bekannteren" Ende an: Wie kommen Dinge ins Bewusstsein? Und gibt gleich eine allgemeinste Antwort: Man wird es nicht verstehen können, wenn man nicht anninmmt, dass sie beide irgendwo einmal ein und dasselbe waren; und diesen Punkt gilt es aufzufinden.

So kann die Darstellung des Systems beginnen. 

Der Philosoph selber hatte woanders angefangen. Er hat begonnen bei dem, was phänomenal gegeben ist - mit dem, was im Bewusstsein als Tatsache wirklich vorkommt. Dann ist er auf seinem analytisch-synthetischen Weg auf das Ich gekommen, wie man es wohl annehmen muss, wenn man sich die Handlungen der Intelligenz begreiflich machen will. Aber dieses Ich ist nicht Sein, sondern Handeln. Ein Etwas, worauf es handelt, ist immer schon vorausgesetzt, und es ist nicht Ich. Wollte ich das Ich rein denken, ohne Widerpart, so müsste ich es als bloßen Trieb denken, eine Energie, die nicht wirken kann, solange sich kein Zylinder bietet, der sie fasst.

Das ist die eigentliche Voraussetzung, doch musste man sie erst heraus finden. Auf ihr baut das System wirklich auf. Aber niemand ist genötigt, sie zu teilen. Sie ist bloße Glaubenssache. Genauer gesagt, eine Geschmackssache.
JE

 

Die Wissenschaftslehre geht von einem Glauben aus.

 
Inwiefern sonach das Wollen ein Absolutes und Erstes ist, ist es schlechthin nicht aus dem Einflusse eines Etwas außer dem Ich, sondern lediglich aus dem Ich selbst zu erklären; und diese Absolutheit desselben wäre es, die nach Abstraktion von allem Fremdartigen übrigbliebe.

Anmerkung

Dass das Wollen in der erklärten Bedeutung als absolut erscheine, ist Faktum des Bewusstseins: Jeder wird es in sich selbst finden, und es lässt sich keinem von außen beibringen, der es nicht schon weiß. Daraus aber folgt nicht, dass diese Erscheinung nicht selbst wieder erklärt und abgeleitet werden müsse, wodurch die erscheinende Absolutheit wieder erklärt würde und aufhörte, Absolutheit zu sein, und sich die Erscheinung derselben in Schein verwandelte: - gerade so, wie es allerdings auch erscheint, dass bestimmte Dinge in Raum und Zeit unabhängig von uns da sind, und diese Erscheinung in einer transzendentalen Philosophie doch weiter erklärt (nur nicht ... in Schein verwandelt) wird. 

Es wird zwar niemand eine solcher Erklärung des Wollens aus etwas anderem zu geben noch irgend ein verständliches Wort zu diesem Behufe beizubringen vermögen; wenn er aber behauptet, dasselbe könne dennoch einen uns freilich unbegreiflichen Grund außer uns haben, so hat eine solche Behauptung freilich nicht den geringsten Grund für sich, es ist aber auch kein theoretischer Vernunftgrund dagegen. 

Wenn  man sich nun doch entschließt, diese Erscheinung nicht weiter zu erklären und sie für absolut unerklärbar, d. i. für Wahrheit und für unsere einzige Wahrheit zu halten, nach der alle andere Wahrheit beurteilt und gerichtet werden müsse, - wie denn eben auf diese Entschlie/ßung unsere ganze Philosophie aufgebaut ist - so geschieht dies nicht zufolge einer theoretischen Einsicht, sondern zufolge eines praktischen Interesse: Ich will selbstständig sein, darum halte ich mich dafür. Ein solches Fürwahrhalten ist aber ein Glaube. 

Sonach geht unsere Philosophie aus von einem Glauben, und weiß es. Auch der Dogmatismus, der, wenn  er konsequent ist, die angeführte Bahauptung macht, geht gleichfalls von einem Glauben aus (an das Ding an sich); nur weiß er es gewöhnlich nicht. ... Man macht in unserem System sich selbst zum Boden seiner Philosophie, daher kommt sie demjenigen bodenlos als vor, der dies nicht vermag; aber man kann ihn im voraus versichern, dass er auch anderwärts keinen Boden finden werde, wenn er sich diesen nicht verschaffe, oder mit ihm sich nicht begnügen wolle.

Es ist notwendig, dass unsere Philosophie dies recht laut bekenne, damit sie doch endlich mit der Zumutung verschont werde, den Menschen von außen anzudemonstrieren, was sie selbst in sich erschaffen müssen.
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System der Sittenlehre..., SW IV, S. 25f.

 

 

Hinweis für neue Leser.


Dies Blog wird gelegentlich auch von Lesern besucht, denen die transzendentale Denkweise ganz neu ist. Darum dieser Hinweis:

Hier ist nicht die Rede davon, wie in der wirklichen Welt 'Stoff' entsteht. Es geht vielmehr darum, wie die Vorstellung von einem Stoff ins Bewusstsein gelangen kann.

Es ist auch keine (neuro-)psychologische Beschreibung dessen, was im Bewusstsein tatsächlich vor sich geht; sondern es ist eine Erklärung dafür, wie es zu einem Bewusstsein überhaupt erst kommen kann - was logischerweise im Bewusstsein gar nicht auftaucht, weil es ihm vorausging.

Auch dann noch sei die Vorstellung von einem Ich, das erst ein Nicht-Ich 'setzt', um ihm dann eine Tätigkeit zumessen zu können, die seiner eigenen so vollkommen entgegengesetzt ist, dass sie einander 'aufheben', und lediglich als 'Spur' ein toter Stoff übrigbleibt... - sei diese Konstruktion noch immer zu gewaltsam, um dem gesunden Menschenverstand (von dem Fichte anders als andre Philosophen eine gute Meinung hatte) irgend einleuchten zu können? - Dann sei erinnert, dass die wirkliche, empirische Geschichte des menschlichen Geistes dazu eine verblüffende Analogie bietet: Die früheste Bewusstseinsverfassung von Homo sapiens ist der Animismus, der eben darin besteht, allem, was nicht Ich ist, dieselbe Wirkungsmächtigkeit zuzuschreiben wie mir selbst, und die Vorstellung von einem toten Stoff kann erst eintreten, nachdem beide Seiten - ich und das Andere - ihres Tätigkeitscharakters entkleidet und zu statisch Seienden objektiviert wurden.

Nein, die Transzendentalphilosophie ist keine besonders gewitzte Interpretation der von der historischen Anthropologie rekonstruierten Mentalitätsgeschichte unserer Gattung. Doch wenn sie  überhaupt etwas taugen soll, dann muss sie fähig sein, in die unter historischen Kontingenzen verschüttete Geistesgeschichte ihr 'pragmatisches' Licht zu werfen. Sie 'begründen' einander nicht. Aber wenn sie einander desavouieren würden, wäre das schlecht - nicht, wie Hegel meinte, für die Tatsachen, sondern für die Philosophie.



Ein völlig neues Terrain.

Annamartha, pixelio.de

Der Abschnitt 'Wissen' in der Bestimmung des Menschen endete mit dem Ergebnis Nichts gilt und Alles nur Konstrukt. Das ist der Schlusspunkt der theoretischen Philosophie. Kann man unter dieser Prämisse sein Leben führen? Offenbar nicht, wenn alles gleich-gilt. Es ist ein Nihilismus, der prima vista allenfalls heroisch zu ertragen ist.

Oder den zu ertragen man sich weigert und sich am eignen Schopf aus dem Morast zieht. So wie der Wendung von der dogmatischen zur kritischen Betrachtungsweise ein praktisches Motiv zugrunde lag -  Es war dasselbe: Unter dieser Prämisse lässt sich ein Leben nicht führen -, wird nun aus praktischer Not ein neues Terrain betreten. Ein neues Terrain, denn das ist festzuhalten: Die Möglichkeiten der Theorie sind, mit Abschluss des kritischen Durchgangs, erschöpft.

Das neue Terrain heißt: Wenn die Welt und das Leben in ihr einen eigenen Sinn nicht haben, dann kann, wenn und weil ich will, nur ich ihnen einen Sinn geben. Geben, nicht entgegennehmen. Aus vollkommener Freiheit, wie er sagt. An etwas Vorgegebenes kann ich mich immer noch nicht halten.

Viel weiter ist er also nicht gekommen. Sein Ergebnis ist einstweilen nur: Ich muss, wenn ich will...

*

Ob für die Lebensführung damit viel gewonnen ist, muss er uns noch zeigen. Für die positiven - 'historischen' - Wissenschaften ist es dagegen schon eine Menge: In ihrem Ergebnis begründet die Wissenschaftslehre eine Anthropologie.





Nachtrag.

Postmoderne Erste Philosophie. 

 
Eine rein theoretische Philosophie, die eruiert, wie die Welt beschaffen ist, müsste doch früher oder später die Frage beantworten, wie es die Welt anstellt, in das Subjekt hineinzukommen, denn nur in der Antwort darauf kann sich die ganze theoretische Vorarbeit rechtfertigen.

Um das Subjekt kommt man also auch in diesem Fall nicht herum. Wenn es schon nicht der erste Anfang ist, müsste es immer noch der zweite Anfang sein.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Subjekt als sein Objekt bestimmendes – und nur so ist es Subjekt – aufzufassen.

Erstens als Bedürfnis, das in sich aufnimmt. Zweitens als Drang, der aus und über sich hinaus will. (Denn eine homöostatische Nullsumme, wo Input und Output sich ausgleichen, wäre kein Subjekt.) Und beides gilt sowohl, wenn ich das Subjekt bloß als Intelligenz, als wenn ich es als ganze Physis auffasse. 


Insofern trifft jede Erste Philosophie, wo immer sie anfängt, eine anthropologisch-theoretische und ipso facto eine praktisch-transzendentale Vorentscheidung. Und so auch die Wissenschaftslehre. Sie versteht das Subjekt apriori als Drang nach außen.
 

Die Alternative ist nicht: 'Dogmatismus oder Idealismus'; der Dogmatismus kann unser Wissen vom Objekt ja nicht erklären. Die allein mögliche - idealistische - Alternative ist vielmehr:

das Ich als ein sich-Setzendes 

oder
das Ich als ein Reinziehendes.

Mit andern Worten, das praktische Prinzip kommt vor dem theoretischen.

*


Mit nochmals andern Worten, alle Erste Philosophie ist anthropologisch; wenn nicht in ihren Aussagen, dann in ihren Prämissen.

An aller postmoderner Denkelei, angefangen bei Michel Foucault,* fällt auf, dass sie das Wesen des Menschen ebenso sorgfältig meiden, wie sie ihre Voraussetzungen vertuschen. Und doch liegt ihnen allen so verstohlen wie entschieden ein Menschenbild zu Grunde – das Ich, das Ansprüche stellt, Bedürfnisse hat und Erlebnisse braucht; ein forderndes, ein zehrendes Subjekt. Seine Objekte 'selber setzend' durchaus – aber nur als die ihm zu-stehenden, zu ihm passenden, ihn befriedigenden. Seine Tathandlung ist Einverleiben und Assimilieren. 


Nur auf den ersten Blick teilen Konstruktivisten und Transzendentalphilosophen dieselbe Prämisse. Genau besehen, ist ihr anthropologischer Vorwntacheid radikaler entgegengesetzt als der von metaphysischen Dogmatikern und aktualistischen Idealisten.

*) Berichtigen Sie mich, wenn ich falsch liege.
 



Nota. Die obigen Fotos gehören mir nicht, ich habe sie im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE    

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