Sonntag, 12. Juni 2016

Der Dogmatiker erklärt nicht, was erklärt werden sollte.



Der Dogmatiker nimmt Dinge an sich an, diese und ihre Existenz postuliert er, denn sie liegen nicht im Faktum meines Bewusstseins. Kein Dogmatiker behauptet, er sei sich der Dinge an sich unmittelbar bewusst. Er behauptet nur, man könne, was Tatsache des Bewusstseins sei, nicht anders erklären, wenn man nicht die Dinge an sich voraussetze. Die alten Dogmatiker oder auch die kritischen Dogmatiker, die sich noch Stoff geben lassen, scheinen das nicht bedacht zu haben, denn sie eifern über das Herausgehen aus dem Bewusstsein, das sie doch selbst tun.

Der Idealist erklärt die Vorstellung aus einem vorauszusetzenden Vorstellenden. Dies ist auch nicht unmittelbar Objekt des Bewusstseins. Im gewöhnlichen Bewusstsein kommen immer Vorstellungen von Dingen außer uns vor. Soll eine Vorstellung vom Vorstellenden vorkommen, muss sie erst durch Reflexion auf sich selbst hervorgebracht werden. Ich //15// bin mir nur des Bewusstseins bewusst und der Bestimmungen des Bewusstseins; auch diese sind Vorstellungen. Im Bewusstsein kann eine Vorstellung vom vorstellenden Subjekt vorkommen, nicht aber das Subjekt selbst. -

Also Idealismus und Dogmatismus gehen aus dem Bewusstsein heraus. Der Dogmatiker geht aus vom Mangel der Freiheit und endigt auch damit. Die Vorstellungen sind ihm Produkte der Dinge, die Intelligenz oder das Subjekt ist ihm bloß leidend. Auch die Freiheit des Handelns geht verloren, und ein Dogmatiker, der Freiheit des Willens annimmt, ist entweder inkonsequent oder er heuchelt, denn dass ich frei handle, geht auch durch die Vorstellung hindurch; nun aber sind [für ihn] die Vorstellungen Eindrücke von Dingen, folglich hängt auch die Vorstellung von der Freiheit des Handelns von dem Dinge ab.

Von der Spekulation aus ist dem Dogmatiker nicht beizukommen, denn alle Prinzipien, durch die man ihn widerlegen könnte, weist er von der Hand. Man muss ihn von den Prinzipien aus widerlegen, von denen er ausgeht.

Der Idealist geht aus von dem Bewusstsein der Freiheit, der Dogmatiker erklärt diese für eine Täuschung. Alles, was man gegen ihn einwenden könnte und was der Idealist vor ihm voraus hätte, wäre das: dass der Dogmatiker nicht alles erklärt, was erklärt werden sollte; dass er unbestimmt ist, denn das Bewusstsein der Freiheit kann er nicht leugnen, er muss es erklären durch eine Einwirkung der Dinge, welches unmöglich ist. Ferner kann er nicht deutlich machen, was für ein Wesen das sein möge, auf welches jede Einwirkung eine Vorstellung hervorbringt. Er kann die Intelligenz nicht genetisch erklären, wohl ab er der Idealist.

Von Seiten der Spekulation lässt sich also mit dem Dogmatiker nichts anfangen, wohl aber von Seiten des innigsten Gefühls. Er [sic] ist den edelsten und besten Seelen unerträglich, welche der Gedanke des Selbstständigkeit und Freiheit das Höchste und Erste ist.
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Wissenschaftslehre nova methodo, II. Einleitung, Hamburg 1982, S. 14 f.



Nota. - Idealist und Dogmatiker haben keinen Grund gemeinsam, auf dem sie bauen könnten. Kein Argument des einen trifft die Argumente des andern. Man kann nur ihre jeweiligen Ergebnisse nebeneinander stellen und vergleichen - nach Gesichtspunkten, die selbst außerhalb - metà - der Argumentation liegen. 

Da fällt zuerst auf: Das System des Dogmatikers ist unvollständig. Er kann die Intelligenz nicht erklären, aber das war eben die Aufgabe. Wenn sie die Dinge nur widerspiegeln kann, kann sie unmöglich ihrer selbst gewahr werden, das aber tut sie; das ist eine Tatsache.

Und zweitens ist das System des Dogmatikers abscheulich - auch dies ein Metà-Gesichtspunkt (und zwar, füge ich an dieser frühen Stelle schon hinzu, ein letzten Endes ästhetischer). Freiheit oder Unfreiheit der Intelligenz sind nicht Ergebnisse einer theoretischen Konstruktion, sondern vielmehr deren Voraussetzung.
JE



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