Samstag, 14. Februar 2015

Echter durchgeführter Kritizismus.

Günter Havlena  / pixelio.de  

Was mein System eigentlich sey, und unter welche Klasse man es bringen könne, ob ächter durchge- führter Kriticismus, wie ich glaube, oder wie man es sonst nennen wolle...
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Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre,
 SW Bd. I, S. 89


…das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft kann also kein andres sein, als dieses: das Mannigfaltige der empirischen Wahrnehmung so zu beurteilen, als ob es unter gewissen Sätzen der Einheit stehe, die ihm ein anderer Verstand in der Absicht gegeben habe, um eine zusammenhängende Erfahrung aus denselben für unsmöglich zu machen. ...

Nun aber wird durch dieses Prinzip der Urteilskraft ein solcher Verstand so wenig vorausgesetzt, dass es vielmehr vor’s erste sehr denkbar ist, ein solches Verhältnis unter den Mannigfaltigen der empirischen Wahrnehmung sei gar nicht anzutreffen, und dass wenn etwas dergleichen angetroffen wird, es uns sehr zufällig scheint: die Urteilskraft setzt dadurch gar nichts über ein Objekt außer sich fest, sondern sie gibt durch dieses Prinzip nur sich selbst ein subjektives Gesetz von hypothetischer Gültigkeit; wie sie verfahren müsse, wenn sie dieses Mannigfaltige in eine systematische Erfahrung ordnen wolle, und wie dieses Mannigfaltige sich müsse betrachten lassen, wenn uns eine Erkenntnis desselben möglich sein solle. Sie setzt also keinen Zweck der Natur voraus, sondern sie macht es sich nur zur Bedingung der Möglichkeit einer zu erwerbenden Erfahrung, dass die Objekte der in der Natur sich als übereinstimmend mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge müssen betrachten lassen, welche nur nach Zwecken möglich ist. 
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Versuch eines erklärenden Auszugs [aus der 'Kritik der Urteilskraft'] GA II/1, S. 333; Rechtschreibung angepasst


Nota.

Das ist das ursprüngliche Programm der Wissenschaftslehre: echter durchgeführter Kritizismus, der auch das Allerheiligste nicht auslässt - die Vernunft und ihre Herkunft. Und es ist ihm vor’s erste sehr denk- bar, dass sich da manches gar nicht 'antreffen' ließe, sondern nur gedacht werden müsse als ob.

- Ich höre schon den Einwand: In dem Erklärenden Auszug ist von der theoretischen Annahme eines Vernunftzwecks der Natur die Rede, die allerdings nur fiktional und 'regulativ' sein kann; bei der von mir beanstandeten dogmatischen Wendung gehe es aber um den Zweck der Vernunft selbst, und der liege im praktischen Feld, aus dem er auch herkommt. Aber das ist Haarspalterei. Denn jedesmal geht es um die Fiktion von einer Prämisse, "die ihm ein anderer Verstand in der Absicht gegeben habe"...; und dieser andere Verstand wäre hier die Vernunft selbst als handelndes Subjekt, intellectus agensdas sein Urteil 'an sich' schon immer gefällt hat und dessen Spruch die endlich-Vernünftigen nur noch verneh- men können. - Wie sehr diese Auslegung in Fichtes 'gewendetem' Sinne ist, erhellt aus den höchst zweideutigen Ausführungen zur Freiheit des Willens in den ersten beiden Vorlesungen An die deutsche Nation.
JE 

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