Sonntag, 8. Juni 2014

Zwei Reihen des Denkens.


Jef Poskanzer

Ganz besonders ist diese vorläufige Untersuchung über die Methode bei der Wissenschaftslehre nöthig, deren ganzer Bau und Bedeutung vom Bau und der Bedeutung der philosophischen Systeme, die bisher gang und gäbe waren, völllig verschieden ist. 

Die Verfertiger der Systeme, welche ich im Sinne habe, gehen von irgendeinem Begriff aus; ganz unbesorgt, woher sie diesen selbst genommen, und woraus sie ihn zusammengesetzt haben, analysiren sie ihn, combinieren ihn mit / anderen, über deren Ursprung sie ebenso unbekümmert sind; und dieses ihr Raisonnement ist selbst ihre Philosophie. Ihre Philosophie besteht dementsprechend in ihrem eigenen Denken. 

Ganz anders verhält es sich mit der Wissenschaftslehre. Dasjenige, was sie zum Gegenstand ihres Denkens macht, ist nicht ein todter Begriff, der sich gegen ihre Untersuchung nur leidend verhält, und aus welchem sie erst durch ihr Denken etwas macht, sondern es ist ein Lebendiges und Thätiges, das aus sich selbst und durch sich selbst Erkenntnisse erzeugt, und welchem der Philosoph bloss zusieht. Sein Geschäft in der Sache ist nichts weiter, als dass er jenes Lebendige in zweckmäßige Thätigkeit versetze, dieser Thätigkeit desselben zusehe, sie auffasst und als Eins begreife. 

Er stellt ein Experiment an. Das zu Untersuchende in die Lage zu versetzen, in der bestimmt diejenige Beobachtung gemacht werden kann, welche beabsichtigt wird, ist seine Sache; es ist seine Sache, auf die Erscheinungen aufzumerken, sie richtig zu verfolgen und zu verknüpfen; aber wie das Object sich äussere, ist nicht seine Sache, sondern die des Objects selber, und er würde seinem eigenen Zweck gerade entgegenarbeiten, wenn er dasselbe nicht sich selbst überliesse, sondern in die Entwicklung der Erscheinung Eingriffe täte. 

Der Philosoph von der ersten Gattung hingegen verfertigt ein Kunstproduct. Er rechnet im Objecte seiner Bearbeitung nur auf die Materie, nicht auf eine innere, selbsthtätig Kraft desselben. Ehe er an die Arbeit geht, muss diese innere Kraft schon getödtet seyn, ausserdem würde sie seiner Bearbeitung widerstehen. Aus dieser todten Masse verfertigt er etwas lediglich durch seine eigene Kraft, und bloss nach seinem eigenen, schon vorher entworfenen Begriff. 

In der Wissenschaftslehre gibt es zwei sehr verschiedene Reihen des geistigen Handelns: die des Ich, welches der Philosoph beobachtet, und die der Beobachtungen des Philosophen. In den entgegengesetzten Philosophien, auf welche ich mich soeben bezog, gibt es nur eine Reihe des Denkens, die der Gedanken des Philosophen; da sein Stoff selbst nicht als denkend eingeführt wird. Es liegt ein Hauptgrund des Missverständnisses und vieler nicht passender Einwürfe / gegen die Wissenschaftslehre darin, daß man diese zwei Reihen entweder gar nicht unterschied, oder was in die eine gehört, mit dem, was in die andere gehört, verwechselte...
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Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre,
SW I, S. 453ff.


Nota. - Transzendentalphilosophie ist Wissen vom Wissen. Die heute schon umgangssprachliche Unterscheidung der semantischen Ebenen, der Objekt- und der Beziehungssprache, war zu ihrer Zeit eine gedankliche Revolution. Doch in der Umgangssprache ist sie noch heute mehr Redensart als Denkweise. Die Kritische Philosophie hat noch immer reichlich zu tun.
JE 

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