Freitag, 2. Mai 2014

Das Reich der Vernunft und das Reich der Moral.


 

Auf die Frage: ob denn nun in der That eine solche [moralische] Welt[ordnung] vorhanden sey, wie ich sie mir vorstelle, kann ich nichts Gründliches, nichts über alle Zweifel Erhabenes antworten als dies: ich habe gewiss und wahrhaftig diese bestimmten Pflichten, welche sich mir als Pflichten gegen solche und in solchen Objecten darstellen; diese bestimmten Pflichten, die ich mir nicht anders vorzustellen, und sie nicht anders auszuführen vermag, als innerhalb einer solchen Welt, wie ich /  mir eine vorstelle. – 

Selbst demjenigen, der seine eigene sittliche Bestimmung sich nie gedacht hätte, wenn es einen solchen geben könnte – oder der, wenn er sie sich überhaupt gedacht hätte, nicht den leisesten Vorsatz hegte, sie irgend einmal in einer unbestimmten Zukunft zu erfüllen – selbst ihm entsteht seine Sinnenwelt und sein Glaube an die Realität derselben auf keinem anderen Wege, als aus seinem Begriffe von einer moralischen Welt. 

Umfasst er dieselbe auch nicht durch den Gedanken seiner Pflichten, so thut er es doch sicher durch die Forderung seiner Rechte. Was er sich selbst vielleicht nie anmuthet, muthet er doch gewiss anderen gegen sich an: – dass sie ihn mit Besonnenheit und Ueberlegung und Zweckmässigkeit, nicht als ein vernunftloses Ding, sondern als ein freies und selbstständiges Wesen behandeln; und so wird er allerdings, damit sie nur diese Anforderung erfüllen können, genöthigt, auch sie, als besonnen, und frei, und selbstständig, und unabhängig von blosser Naturgewalt zu denken.  
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Die Bestimmung des Menschen, SW II, S. 261f.



Nota. - Nachdem uns keiner so energisch wie er darauf verwiesen hat, dass das Recht nicht aus der Moral, noch gar die Moral aus dem Recht hervorgehe, stellt er sie nun ebenbürtig nebeneinander wie zwei Seiten einer Medaille. Aber wo von Rechten die Rede ist, ist von Rechten gegen Andere - ihrer gegen mich, meiner gegen sie - die Rede; nämlich von den Bedingungen eines vernünftig geordneten oder noch zu ordnenden Zusammenlebens. Und nur in diesem Zusammenhang ist es berechtigt, von den Rechten der andern als von meinen Pflichten, und von meinen Pflichten als von deren Rechten zu denken.

Aber die Moralität, die er hier in Anspruch nimmt, bezieht sich nicht auf meine Pflichten gegen Andere, sondern gegen mich. Moralität gebietet mir, was ich mir selber schuldig bin. Mir bin ich schuldig, gegen andere gerecht zu sein. Den andern schulde ich nur, was ihre Rechte sind. Das Recht gehört in unsere, die Moralität in meine Welt. Ich bin faktisch jederzeit in beiden. Die Erfordernis, beide in meiner Vorstellung und in meinem daraus resultierenden Handeln mit einander in Beziehung zu setzen, begründet Vernunft. In meiner Welt allein wäre sie ohne allen Sinn.
JE

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